Der Landmann Daniel Steup wird am 3. September 1835 in Stockhausen geboren, als Sohn des Heinrich Steup und seiner Ehefrau Anna Maria, geb. Neeb.

Er verheiratet sich am 26.November 1865 mit Sophie Kray, geb. am 10. März 1843 als Tochter des Landmanns und Kirchenvorstehers Wilhelm Friedrich Kray und seiner Ehefrau Anna Elisabetha, geb. Pfeiffer zu Hof.

Am Ostersonntag 1862 sticht er ohne Veranlassung dem Bürgermeister a.D. Wilhelm Kolb zu Marienberg mit einem Messer in die rechte Wange, wobei die Klinge abbricht und das abgebrochene Stück im Wangenknochen des Kolb stecken bleibt und erst im Februar 1878 ärztlich entdeckt und entfernt wird. Infolge dieses Vorfalls war Wilhelm Kolb nach den Feststellungen des Gerichts fast 16 Jahre lang krank und häufig arbeitsunfähig gewesen, hatte teilweise starke Schmerzen erlitten und musste vielfach ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen; auch sein Vermögen hatte Schaden genommen.

Daniel Steup wurde strafrechtich zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt.

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In erster Instanz hatte Wilhelm Kolb vor dem Landgericht Limburg den Landmann Steup erfolglos auf Schadensersatz verklagt. Auf die beim ersten Zivilsenat des Königlich Preußischen Oberlandesgerichts zu Frankfurt am Main eingelegte Revision wurde der Beklagte hingegen verurteilt.

Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Steup Revision vor dem Reichsgericht[1] ein und beantragte das angefochtene Urteil aufzuheben und das klageabweisende Urteil der ersten Instanz wieder herzustellen; der Kläger und Revisionsbeklagte Kolb beantragte Zurückweisung der Revision.

Im achten Band der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen ist folgendes Urteil zu finden:

 

Im Namen des Reichs

In Sachen des Landmanns Daniel Steup zu Stockhausen, Beklagten, Revisionsklägers, vertreten durch den Justizrath Dr. Braun, wider den Bürgermeister a. D. Wilhelm Kolb zu Marienberg, jetzt dessen Witwe, Kläger, Revisionsbeklagten, vertreten durch den Justizrath Fenner, hat das Reichsgericht, Dritter Zivilsenat, auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 1882, unter Mitwirkung:

des Präsidenten Dr. Henrici

und der Reichsgerichtsräthe von Streich, Hullmann, Meyer, Buff, Rassow, Dr. Agricola

für Recht erkannt:

die gegen das Urtheil des ersten Zivilsenats des Königlich Preußischen Oberlandesgerichts zu Frankfurt a/M. vom 13. März 1882 eingelegte Revision wird zurückgewiesen; die Kosten der Revisionsinstanz werden dem Revisionskläger auferlegt.


Von Rechts Wegen


Thatbestand.
Gegen das den Beklagten verurtheilende Erkenntniß der vorigen Instanz, auf dessen mündlich vorgetragenen Thatbestand hiermit Bezug genommen wird, ist seitens des Beklagten Revision erhoben und beantragt worden, das angefochtene Urtheil aufzuheben und das klagabweisende Urtheil der ersten Instanz wiederherzustellen. Seitens der klägerischen Partei ist um Zurückweisung der Revision gebeten worden.
Nach Erhebung der Revision ist der seitherige Kläger, Bürgermeister Kolb gestorben und von seinen fünf Kindern beerbt worden, während seine Witwe den Nachlass beleibzüchtigt. Aufgrund dieses Leibzuchtsrechts hat die Witwe des Klägers den gegenwärtigen Rechtsstreit aufgenommen, wogegen eine Einwendung von beklagter Seite nicht erfolgte.


Entscheidungsgründe.
Der Berufungsrichter hat als bewiesen angenommen, daß der Beklagte an Ostern 1862 dem Kläger mit einem Messer einen Stich in die rechte Wange versetzte, daß dabei die Klinge abbrach und daß das abgebrochene Stück in dem Backenknochen des Klägers blieb und erst im Februar 1878 ärztlich entdeckt und entfernt wurde. Weiter hat der vorige Richter angenommen, daß der Kläger in Folge dessen nahezu 16 Jahre lang krank, theilweise mit großen Schmerzen behaftet und häufig arbeitsunfähig gewesen ist, daß er vielfach ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen mußte und auch an seinem Vermögen Schaden gelitten hat.

Dies sind thatsächliche Feststellungen auf Grund der erhobenen Beweise, die in rechtlicher Beziehung ebenso wenig Bedenken erregen, als die vom Berufungsrichter daran geknüpfte Schlußfolgerung, daß der Beklagte nach den Grundsätzen des Aquilischen Gesetzes daraufhin verpflichtet sei, dem Kläger Ersatz seines positiven Schadens und seines entgangenen Gewinnes zu leisten, auch ihm ein den Verhältnissen angemessenes Schmerzensgeld zu entrichten.

Was die letztgedachte, vom Revisionskläger im besonderen angegriffene Entscheidung betrifft, so ist es eine in der heutigen gemeinrechtlichen Theorie und Praxis allgemein angenommene Ansicht, daß der durch ein Delict an seinem Körper Verletzte Anspruch auf ein Geldäquivalent für die durch die Verletzung erlittenen Schmerzen, ein sogenanntes Schmerzensgeld habe. Seine Begründung findet dieser Anspruch in einem gemeinen deutschen Gewohnheitsrecht, das, wie von Wächter in seiner Schrift über die Buße S. 77-85 des näheren ausgeführt wird, seinen Ausgangspunkt von Artikel 20 und 21 der Carolina genommen, seit Carpzows Zeiten in der entschiedensten Weise sich ausgebildet und bis auf die neueste Zeit sich erhalten hat. Beweis für den heutigen Bestand dieser gewohnheitsrechtlichen Norm sind die in Seuffert's Archiv veröffentlichten Urtheile der verschiedensten deutschen Gerichtshöfe, welche bis auf eine, übrigens auf ganz unzulänglichen Gründen beruhende Ausnahme (zu vergl. Seuffert's Archiv Band 13 № 31) sämtlich dem Anspruch auf Schmerzensgeld praktische Folge gegeben haben. Auch die neueste gemeinrechtliche Doktrin ist, wenn auch nicht über die innere Natur, so doch über die fortdauernde Gültigkeit des Anspruchs beinahe vollständig einig. Desgleichen hat die Rechtsauffassung, welche zur Bildung des erwähnten Gewohnheitsrechtes geführt hat, auch in einer Reihe neuerer deutscher Gesetzgebungen Anerkennung gefunden, während der Umstand, daß andere deutsche Legislationen neuerdings sich veranlaßt gesehen haben, den Anspruch auf Schmerzensgeld ausdrücklich abzuschaffen, gerade zum Belege dafür dienen kann, daß man auch dort den Anspruch als bestehend angesehen hatte.

Als Geldäquivalent für die durch eine Verletzung erlittenen Schmerzen, in welcher Eigenschaft das sogenannte Schmerzensgeld gewohnheitsrechtlich sanctioniert worden ist, kann daßelbe nicht für eine Privatstrafe im technischen Sinne erklärt, sondern es muß, wie Wächter (…?) Seite 74-76 gegenüber von Windscheid Pandekten § 455 a. E. überzeugend darlegt, als ein civilrechtlicher Ersatzanspruch wegen widerrechtlich erlittener Schmerzen aufgefaßt werden.

Die Höhe der dem Verletzten zuzubilligenden Geldsumme richtet sich nach den Umständen des concreten Falles. Hier hat die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen das ausschlaggebende Moment zu bilden; das richterliche Ermessen ist aber bei Arbitrierung jener Summe keineswegs in der Weise beschränkt, daß es nicht höher gehen dürfte als bis zum Betrage der durch die Verletzung aufgelaufenen Kurkosten.
Von vorstehenden Gesichtspunkten aus ist in der Entscheidung des Berufungsrichters, welcher im Hinblick auf die überaus peinvollen und vieljährigen Nachwehen der klägerischen Verletzung eine Entschädigungssumme von 3000 Mark ausgeworfen hat, kein Rechtsverstoß zu erkennen.

Bei den übrigen Positionen der Klage hat sich das Berufungsurtheil auf Zeugen und Sachverständige gestützt und danach mit Berücksichtigung der concreten Umstände den dem Kläger zuzuerkennenden Schadensersatz gewerthet. Es ist dies ein Verfahren, das nach Maßgabe des § 260 der Civilproceßordnung keinem Anstande unterliegt, auch um deswillen nicht, weil der vom Beklagten bezeichnete Beweis unerhoben geblieben ist. Denn nicht bloß hat der Richter bei Entscheidung über Schadensersatzansprüche kraft § 260 der Civilproceßordnung eine freiere Stellung, sofern hier seinem Ermessen überlassen ist, ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme anzuordnen sei, sondern es kommt noch hinzu, daß der Berufungsrichter in seinen Gründen auseinandersetzt, weshalb er die einzelnen Gegenbeweisvorbringen für thatsächlich unerheblich ansieht und daß gegen diese Auseinandersetzung in rechtlicher Beziehung Nichts zu erinnern ist. Was schließlich die Einrede des Verzichts von 1862 oder 1863 anbelangt, so hat der vorige Richter "nach Lage der Sache und den obwaltenden Umständen" angenommen, daß Kläger zu demselben lediglich durch die falsche Voraussetzung, daß er in kurzer Zeit vollständig wiederhergestellt sein werde und im entschuldbaren Irrthum über die Thatsache, daß in seinem Backenknochen ein Gegenstand zurückgeblieben sei, sich habe veranlassen lassen.

Von dieser thatsächlichen Feststellung aus ist auch die Conclusio des vorigen Richters nicht zu beanstanden, daß die fragliche Verzichtserklärung als eine Folge dieses Irrthums wirkungslos sei. Gilt dies jedenfalls bezüglich der dem Verzichte nachfolgenden Zeit, so ist, was die Kürze demselben vorausgegangene Zeitfrist betrifft, nur daran zu erinnern, daß der hierauf entfallende Betrag nicht weiter in Betracht kommen kann, nachdem der Berufungsrichter die klägerische Forderung weit über den geforderten Betrag hinaus für begründet erklärt hat.

gez: Dr. Henrici, von Streich, Hullmann, Meyer, Buff, Raffow, Dr. Agricola.
Verkündet in öffentlicher Sitzung des Reichsgerichts, Dritten Civil-Senats,
vom 17. November 1882.


gez: Kuehn, Gerichtsschreiber.
III. 321/1882.
Werth des Streitgegenstandes: 5400-6700 M.

Über einen Kaufkraftvergleich hochgerechnet entsprechen 3000 Mark aus dem Jahr 1880 im Jahr 2020 einer Summe von ca. 30.000 Euro.

Das "Durlacher Wochenblatt" in Karlsruhe berichtet am 13. April 1882 dass insgesamt mit Zinsen und Gerichtskosten eine Summe von 6300 Mark zu zahlen seien und dies fast das gesamte schuldenfreie Anwesen des Daniel Steup koste.

 

 

Anmerkungen:
[1] Das Reichsgericht war von 1879 bis 1945 das oberste Straf- und Zivilgericht im Deutschen Reich. Es hatte seinen Sitz in Leipzig im Reichsgerichtsgebäude.
 
 
 
 

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