1816/17 war ein Mißjahr, wie es seit Menschengedenken nicht gewesen ist. Es hat gar keinen Wein gegeben. Von Hundert Garben Korn hat man 6 - 7 Simmer1) gedroschen. Gerste und Hafer hat es ziemlich gegeben, aber die Gerste ist halb im Felde verfault und noch im Korn war fast der zehnte Teil vergiftet. Wenn man Kornbrot aß, sind die Leute so toll geworden2), daß sie umgefallen sind. Das Malter Korn und Gerste hat gekostet 36, das Malter Hafer 20, das Malter Kartoffeln 15 Gulden, das Pfund Brot 12 Kreuzer, die Maß Bier 16 Kreuzer, das Viertelchen Branntwein 8 Kreuzer. Die Leute haben als von Kohlraben Brot gebacken und von lauter Kleie.“

So beschreibt der Vorsteher Bartholomäus Horn im Gemeindebuch von Damscheid, einem Dorf im Rhein-Hunsrück-Kreis, das Hungerjahr 1816/17.

Dieses Wetterphänomen war nicht auf die Regionen am Rhein beschränkt. Ein großer Teil Europas, darunter Deutschland, Frankreich, die Benelux-Staaten, England, Irland, Österreich und besonders die Schweiz litten unter Regen und Kälte. Kanada und der Osten Nordamerikas kämpften mit Trockenheit und anhaltendem Frost. Das amerikanische Volkslied "Eighteenhundred and frozen to death" bezieht sich auf diese tragischen Ereignisse. Besonders betroffen waren die Armen, denn sie litten am meisten unter den gravierenden Preissteigerungen. Zeitweise musste ein Beamter 22 % seines Einkommens, ein Tagelöhner 74 % seines Einkommens für Brot aufbringen. Zum Teil herrschte wirklicher Mangel, wie in Württemberg und der Eifel, zum Teil wurden die Lebensmittel gehortet, um sie zu Wucherpreisen auf den Markt zu bringen. Eine Erhebung des Landrats von St. Goar kam zu dem Ergebnis, dass zumindest teilweise die Preissteigerung der Lebensmittel und des Getreides auf Wucher zurückzuführen war. Auch der Landrat in Bad Kreuznach stellte im Juli 1816 fest: „Mehr Furcht und schändlicher Wucher als eigentlicher Mangel erzeugt im Laufe des Monats eine Teuerung der Früchte, die in einzelnen armen Gemeinden den drückensten Brotmangel zur Folge hatten.“ Die Koblenzer Regierung sprach offen von „ein paar Dutzend Kornjuden“, die sich „zum Nachteil des ganzen Landes“ bereicherten. Über die begüterte Schicht häuften sich seit Januar 1817 die Klagen. Oft stand nicht die Nächstenliebe, sondern der eigene finanzielle Vorteil im Vordergrund. Das knappe Getreide wurde sogar zum Schnapsbrennen genutzt.

Krankheit und Armut breiteten sich aus, immer mehr Bettler zogen durch die Lande und Prostitution, Diebstähle und Einbrüche stiegen sprunghaft an. In Frankreich kam es zu Aufständen, Bäckereien und Getreidespeicher wurden geplündert. In Irland brach das Fleckfieber aus, auch bekannt als Hungertyphus. Die kleinen Landwirte, Winzer und Tagelöhner in den Viertälern, die darauf angewiesen waren, nebenher Lohnarbeit zu verrichten, standen nun ohne Verdienst da und konnten nicht länger ihr tägliches Brot verdienen. Viele Menschen wollten ihr Elend hinter sich lassen und wanderten in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Amerika aus.

Die Großherzoglich Hessische Regierung zu Giessen gab Mitte 1817 eine Anweisung an alle Justitz- und Polizeibeamte der Provinz Hessen heraus, aufgrund der überhandnehmenden Anzahl von Bettlern aus dem Westerwald, zu erkennen seien sie an ihrem blauen Kittel, der Landestracht des Westerwaldes.

Natürlich wird die erbärmliche Situation der Leute auch sofort durch Betrüger und Geschäftemacher ausgenutzt, wie dem abgebildeten Protocolli zu entnehmen ist.

Bereits im Juli 1816 wurden die königlichen Magazine geöffnet. Überall in Europa bildeten sich Hilfsvereine für die Bedürftigen. Osteuropa und das Baltikum waren von dem Ernteausfall verschont geblieben. Daher beschloss die preußische Rheinprovinz im Dezember 1816, Getreide anzukaufen. Aber die Schiffe konnten die Häfen erst nach dem Ende der Frostperiode verlassen, und dann musste die Ware oft noch weit über Land transportiert werden. Seit Juni 1817 traf im Regierungsbezirk Koblenz Ostseegetreide ein.

Die hessische Regierung ließ als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der neu erworbenen Provinz Rheinhessen Straßen anlegen. Die unter Napoleon gebauten Heerstraßen waren noch vorhanden, aber die Transportwege für Handelsgüter waren schlecht, und die Hungersnot von 1816 wurde durch die schlechte Verkehrsanbindung verschärft.

Immer mehr Länder erließen Exportverbote, weil die Bauern ihre Überschüsse mit großem Gewinn über die Grenze verkauften und dabei die eigenen Reserven angriffen. Auch Hessen besaß immer noch genügend Überschüsse. In weiten Teilen Europas war die Krise von 1816/17 nicht nur eine Teuerung, sondern eine echte Hungerkrise.

 

 

 

 

 

 

Die Schweiz war mit am schlimmsten betroffen. Bedingt durch die kurze Vegetationsperiode und die abgelegenen Täler importierte das Land schon in normalen Jahren regelmäßig Getreide aus Württemberg, Bayern und Baden. Seit der Ausfuhrsperre war dies nicht mehr möglich. Viele Menschen starben Hungers, wobei sich schreckliche Szenen abgespielt haben müssen. Aus dem Kanton Glarus wird folgendes berichtet:

„Da ich in eine dieser Hütten, oder Eins dieser Löcher eintrat, befiel mich in der That beynahe eckelndes Entsetzen. In einem kleinen Stübchen waren etwa acht Menschen in schwarzen Lumpen, die als zerrissne, zerfranzte Fetzen kaum an ihnen hängen bleiben konnten, beyeinander. (…) In einer Wiege lag ein neugebornes Kind, von einem Leichnam erzeugt, und von einem Leichnam als Leichnam geboren. (…) Wie aus Gräbern hervorgescharrt, sahen alle Anwesenden aus; am elendsten der ausgemagerte Vater des Kindes, dessen hohle Augen und eingefallene Backen und Auszehrungsbusten die Nähe des Todes verkündeten, oder den Tod selbst sichtbar machten. Tische, Bänke, Stühle waren keine vorhanden; auch nicht ein Hausgeräth, nicht ein Stück Bettzeug, nicht ein Stück Kleidung.“

Den Menschen war die Ursache dieser Klimaveränderung unbekannt. Viele glaubten, dass Gott sie für ihre Sünden strafen wolle. Es vergingen mehr als hundert Jahre, bis die Ereignisse von 1816 mit einem Vulkanausbruch verknüpft werden konnten. Im April 1815 explodierte auf der Insel Sumbawa, östlich von Java in Indonesien, der Vulkan Tambora und schleuderte dabei glühende Asche bis in eine Höhe von 50 km. Die mit den Eruptionenen verbundenen Donnerschläge hielten die Briten, unter deren Protektorat die Insel damals stand, für Geschützfeuer. Eine dreitägige Dunkelheit und die noch in weiter Entfernung heruntergehende Asche und Steine belehrten die Menschen bald eines Besseren. Der Vulkan, der mit seinen 4000 m einst zu den höchsten der Welt gezählt hatte, schrumpfte auf 2853 m. Die Explosion hinterließ eine über tausend Meter tiefe Caldera mit einem Durchmesser von 6 km. Tausende Bewohner der Insel kamen bei der Katastrophe ums Leben oder starben bald darauf an Hunger und Krankheit.

Der Radscha von Sanggar war Augenzeuge des Ausbruchs:

„Gegen sieben Uhr abends brachen am 10. April drei verschiedene Feuersäulen in der Nähe des Gipfels hervor, die sich alle innerhalb des Kraterrandes zu befinden schienen; und nachdem sie getrennt in eine große Höhe aufgestiegen waren, vereinigten sich ihre oberen Ende in der Luft in einer beunruhigend verworrenen Art und Weise. Nach kurzer Zeit schien der ganze Berg eine Masse aus flüssigem Feuer zu sein, die sich in alle Richtungen ausbreitete."

Der Ausbruch hatte einen enormen Einfluss auf das Weltklima. Durch die Eruption gelangten Asche und magmatische Gase in die Stratosphäre, die dort winzige Partikel, sogenannten Aerosole, mit einer geringen Fallgeschwindigkeit bildeten. Über Monate hinweg verteilten die Winde die Aerosole um den ganzen Globus und schirmten die Sonnenstahlen ab. Es dauerte Monate, bis sie nach Europa kamen. Die Folge war eine mehrjährige Abkühlung, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1815 bis 1817 erreichte und endlich endete, als Regen die Aerosole nach und nach aus der Atmosphäre wegwusch.

 

 

Anmerkungen:

1) Malter und Simmer, letzterer auch als Scheffel bezeichnet, sind alte Hohlmaße, die je nach Region unterschiedlich ausfallen. In Mainz kamen auf das Malter 1,09 hl, in Hessen 1,28 hl.

2) Durch anhaltenden Regen war das Getreide von claviceps purpurea, dem sogenannten Mutterkorn befallen, der beim Menschen Krämpfe, Halluzinationen und Durchblutungsstörungen verursacht. Wird der Pilz in großen Mengen verzehrt, kann er sogar zum Tode führen. Mutterkorn verursacht bei Schwangeren vorzeitige Wehen und wurde daher gerne als Abtreibungsmittel verwendet.

 

 

 

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